Lesbares

Barreau, Nicolas: Das Lächeln der Frauen

Thiele Verlag, München; Wien 2010, 336 Seiten, Buchpreis: 9,99.

Cover Lächeln der Frauen

Der Autor des Buches „Das Lächeln der Frauen“, Nicolas Barreau, arbeitet selbst in einer Buchhandlung und irgendwie merkt man das seinem Buch an. Er scheint das Buchmilieu zu lieben und es auch durchaus zu kennen. Dies ist einerseits schön, weil auch ich diese ganz besondere Bücherstimmung mag: Gemütliche Cafés, verwinkelte Buchläden, in denen sich Buch um Buch übereinanderstapelt, elegante und doch verruchte Verlegerbars und die typische Pariser Altbauwohnung, in denen auf einem wackligen Holztisch schicksalsträchtige Briefe liegen. Gleichzeitig kommt einem all dies als Vielleser doch auch sehr bekannt vor – zu oft wurde diese Stimmung in verschiedensten Romanen mal besser und mal schlechter reproduziert.
Dabei ist die Reproduktion in „Das Lächeln der Frauen“ sicher gelungen. Beim Lesen steigt ein wohliges Gefühl im einen auf, vielleicht gerade weil das Beschriebene wie altbekanntes wirkt. Einige der Bilder sind jedoch zu abgelutscht. Zum Beispiel das der alten exzentrischen Ms Dinsmore, die wirkt, als sei sie direkt „Dinner for One“ entstiegen: Jeden Geburtstag feiert sie, die all ihre Künstlerfreunde überlebt hat, in der „Coupole“, umzingelt von Kellnern und mit viel Champagner. Auch schwingt immer überall irgendwie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ mit: Die Hauptfigur Aurélie Bredin findet, während sie einsam Paris durchstreift, weil sie von ihrem Freund verlassen wurde, ein geheimnisvolles Buch, das außergewöhnlich viele Verbindungen zu ihrem Leben aufweist. Sie macht sich auf die Suche, den geheimnisvollen Autor des Buches zu finden. Nicht nur die Namensähnlichkeit ist auffällig: Ebenso beginnt Amélies Geschichte damit, dass sie den Besitzer der mit Spielzeug gefüllten Schachtel, die sie hinter einer Badezimmerfliese in ihrer Wohnung fand, finden möchte. Auch die Art des Films, wie die Charaktere liebevoll mit charmanten Macken und skurrilen Lebensansichten beschrieben werden, findet sich in „Das Lächeln der Frauen wieder“. So heftet Aurélie Post-Its von Gedanken an ihre Schlafzimmerwand. Sie „haften an der hellen Tapete wie tropische Schmetterlinge, eingefangene Momente, die keinem Zweck dienen außer dem, in meiner Nähe zu bleiben, und wenn ich die Balkontür öffne und ein leichter Luftzug durch das Zimmer streicht, zittern sie ein wenig, so als wollten sie davonfliegen“. Oder sie hat Angst, sich im Dunkeln auf der Treppe umzudrehen, weil dies Monster erschaffen könnte.
Trotz – oder auch wegen – all dieser Ähnlichkeiten und Bilder, ist das „Lächeln der Frauen“ ein wunderbares Buch, ein leichter Sommer-Roman, der so mit einem mitflattert. Auch wenn das Werk einem nicht unbedingt neues geben kann –keine neuen Gedanken, keine neuen Bilder, keine neuen Charaktere – macht es ungeheuren Spaß, es zu lesen. Weil es Gedanken, Bilder und Charaktere beschreibt, die man auch nach zwei- oder dreimal lesen noch gerne hat. Es ist gefühlvoll geschrieben und schwungvoll formuliert, es erschafft glückliche Gefühle und es zaubert einem immer wieder ein Lächeln auf das Gesicht. Wenn der Titel des Buches andeuten soll, dass dies das Ziel des Autors war, würde ich sagen: geschafft. Und wenn dies vielleicht auch nicht das anspruchsvollste Ziel ist, das man mit einem Werk erreichen kann, so ist es doch eines der schönsten.

Lenz, Siegfried: Schweigeminute

Verlag Hoffman & Campe, Hamburg 2008, 128 Seiten, Buchpreis: 15,95.

Cover Schweigeminute

Bilder über Bilder reihen sich in „Schweigeminute“ aneinander. Den Personen kam ich nicht nahe, obwohl ich gerade das bei einer Novelle, in der es um die Liebe geht, erwarten würde. Die Liebe zwischen den zwei Hauptpersonen habe ich nicht verstanden, obwohl ich doch gerade das bei einer Liebe, die nicht sein darf, erwarten möchte.
Nur kurze Geschehnisse reihen sich aneinander, an die sich der Schüler Christian episodenhaft erinnert, während die Schüler für seine geliebte Lehrerin eine Schweigeminute abhalten. Die Bilder in den Geschehnissen, die Lenz durch die Gedanken seines Protagonisten erschafft, sind alles, was einem die Liebe zwischen Christian und Stella verdeutlichen soll.
Dass diese Bilder meist von Steinen handeln, macht es nicht unbedingt leichter, die Liebe zwischen den beiden zu verstehen. Aber irgendwie habe ich es dann doch erfasst. Nur um einen Rahmen zu geben: Christian ist der Sohn eines Steinfischers. Er holt Findlinge vom Grund des Meeres – was vielleicht auch dieses Gefühl für Stella beschreiben soll. Verborgene, große, schwere Steine, die an die Oberfläche gebracht werden. Stella kommt um – durch einen, aus diesen Steinen gebauten Wellenbrecher. Das ist sicher kein zufälliges Bild. Auch als Christian seine berufliche Tätigkeit einem englischen Fragenden erklärt, beschreibt er damit vielleicht eigentlich die Liebe zwischen ihm und Stella: „We are only fishing for stones.“
Doch irgendwie schafft es Lenz trotz allem in seinen einfachen, kurzen Sätzen und ohne Charaktere zu beschreiben, die tiefe Trauer, das schwere Schicksal und die Liebe seines Protagonisten in meinem Gefühl entstehen zu lassen. Genau deswegen wahrscheinlich ging mir das Buch nicht mehr so schnell aus dem Kopf. Um es zu verstehen, musste ich mitdenken, aber vor allem die Bilder fühlen - und die bleiben.

London, Jack: Martin Eden

Georg Olms Verlag, Berlin 2008, 549 Seiten, Buchpreis: 12,80 Euro.

Cover Martin Eden

2008 brachte der Georg Olms Verlag zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten, die Reihe „Bibliothek verbrannter Bücher“ auf den Markt. Darunter war auch das auf Deutsch erstmals 1927 (Englisch: 1909) erschienene Werk „Martin Eden“ des amerikanischen Schriftstellers Jack London.
Das zweibändige Werk ist eine der umfangreichsten Veröffentlichung des Autors. Mit 500 Seiten bietet es viel Platz um vieles zu diskutieren – und tut dies auch. Zeitlich spielt es um 1900, während die Industrialisierung im vollen Gange ist. Die Hauptthemen des Werkes sind auch die Hauptthemen der Zeit: Die sozialen Klassen, der Sozialismus, der verstärkte Einfluss von Zeitschriften und Literatur.
Der äußere Handlungsstrang der Geschichte ist schnell zusammen gefasst. Martin Eden, ein 20-jähriger Arbeiter aus Oakland (damals ein Vorort San Franciscos) beschützt einen wohlhabenden Bürgerssohn bei einer Schlägerei und wird daraufhin von der Familie zum Essen eingeladen. Dabei verliebt er sich in die Tochter des Hauses, Ruth Morse. Um ihrer würdig zu werden beschließt er, ein wohlhabender und anerkannter Mann zu werden. Der Weg dazu ist für ihn das Schreiben, das eine Faszination auf Martin ausübt, die er erst durch den Umgang mit der kulturell gebildeten Schicht überhaupt erkennt. Er beginnt sich autodidaktisch zu bilden, ist bald der gemeinen bürgerlichen Schicht in seinem Wissen weit voraus und beginnt, deren Oberflächlichkeit und Unmündigkeit zu kritisieren.
Mit dem Schreiben bleibt er anfangs erfolglos, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser oder hungert immer mal wieder. Ruth, die sich entgegen den Willen ihrer Eltern mit Martin verlobt hatte, verlässt ihn wieder, weil sie es als sinnlos ansieht, die Beziehung weiter zu führen, wenn Martin keine Aussicht auf eine feste Stelle hat. Durch Zufall wird Martin einige Zeit später erfolgreich, man reißt sich um seine Werke. Doch innerlich ist er, der vorher Kraft und Lebensgeist sprühte, mittlerweile wie tot. Desillusioniert durch das Erlebte und enttäuscht von der Gesellschaft entschließt er sich, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Interessanterweise ist dies tatsächlich fast die gesamte Handlung des Buches, geschrieben von dem Jack London, von dem man sonst Abenteuerberichte von Seefahrten und Alaskatouren gewohnt ist. Bei Martin Eden jedoch spielt sich die Handlung in den Köpfen ab, in Diskussionen mit Feinden und Freunden. Und so kommt es, dass das gesamte Buch im Grunde eine Kritik ist. Eine Kritik an den bestehenden Zuständen. Eine Kritik am Klassensystem, an der Gesellschaft, an der kulturellen Welt, am Leben unter diesen Umständen und vielleicht auch am Individualismus.
Kritik am Klassensystem deswegen, da die Gefangenschaft, die dieses System bedingt, dargestellt wird. Einerseits die schlichte Tatsache, dass Ruth und Martin nicht heiraten können, weil sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, obwohl sie sich offensichtlich lieben. Andererseits das Problem Martin Edens, der versucht, sich aus der Arbeiterklasse nach oben zu arbeiten und sich am Ende niemandem mehr zugehörig fühlt. Bestehende Klassen bedeuten nun mal auch bestehende Gruppen und Martin Eden, der sich selbst als Individualist bezeichnet und für diese Lebenshaltung einsteht, kann sich in keine dieser Klassen einfügen und vereinsamt. Auch eine Kritik, weil die Ungerechtigkeit dargestellt wird. Martin Eden widerstrebt die Bürgerschicht immer mehr. Die Anwälte, Richter, Ärzte, Bankangestellten und Professoren werden überwiegend oberflächlich, dumm und selbstzufrieden beschrieben. Dagegen stehen die Arbeiter, die zwar ungebildet, aber doch ehrlich arbeitend sind sowie die Denker, die immerhin idealistische Ideen und Geist haben, doch meist am Hungertuch nagen. Die einzige Ausnahme in dieser Masse bildet Brissenden, ein wohlhabender Philosoph und ein Freund Martins, der sich jedoch bezeichnenderweise nach zwei Dritteln des Werks eine Kugel durch den Kopf jagt.
Kritik an der Gesellschaft deshalb, weil diese all das zulässt. Weil sie es zulässt, dass die Reichen die Reichen und die Armen die Armen sind, weil sie unmündig ist, weil sie heuchlerisch ist. Weil alle Martin Eden zum Essen einladen, seit er berühmt ist, obwohl er doch, auch als niemand seine Bücher beachtete, derselbe Mensch war.
Kritik an der kulturellen Welt, vor allem an der Verlags- und Zeitungswelt deswegen, weil "neunundneunzig Prozent der Redakteure überhaupt keine Befähigung haben [...] Fast alle sind sie Männer, die erfolglos zu schreiben versucht haben. Und doch sollen gerade sie, die von allen Menschen unter der Sonne am Wenigsten dazu geeignet sind, entscheiden, was im Druck erscheinen soll oder nicht." Weil die Verlage Martin Eden um seinen Lohn betrügen und weil das Meiste, das gedruckt wird, nach Martin Edens und wohl auch Jack Londons Meinung Schund ist.
Kritik am Leben unter diesen Umständen deswegen, weil Martin Eden daran zu Grunde geht. Weil er als Kämpfer und Idealist angefangen hat, sich nach oben arbeitete und doch von allen enttäuscht wurde.
Kritik am Individualismus? Laut Jack London schon: In einer Notiz an Upton Sinclair schreibt er:" One of my motifs, in this book, was an attack on individualism (in the person of the hero). I must have bungled, for not a single reviewer has discovered it." Tatsächlich: Selbst mit dem Wissen, dass Jack London Sozialist war und folglich dem Individualismus skeptisch gegenüber stand, ist es schwierig, aus dem Buch eine Kritik am selbigen heraus zu lesen. Dafür ist Martin Eden, der den Individualismus verkörpert, zu idealisiert dargestellt. Die Schwächen, die er aufzeigt – Gewaltbereitschaft, Besessenheit, Starrköpfigkeit – sind immer zu gut begründet.
Martin Eden wollte heraus aus seinen Verhältnissen. Er wollte nicht die Gesellschaft verändern, an der er zu Grunde ging. Individualistisch, nicht sozialistisch. Er zitiert Nietzsche und Spencer, spricht von der Sklavenmoralität des Sozialismus und vertritt die Ideen der Entwicklungslehre und des Sozialdarwinismus. Er ist ein Einzelkämpfer, der allein nicht sein kann und wählt deshalb endlich den Freitod.
Jack London selbst beschreibt Martin Eden als einen Mann, der sterben musste: "Nicht, weil er zu wenig an Gott glaubte, sondern, weil er zu wenig an die Menschen glaubte." Mit diesem Satz als Hintergedanken also doch eine Kritik am Individualismus.
Auf jeden Fall ist Martin Eden ein Buch seiner Zeit mit bedeutenden Themen, spannenden Ideen und vielen Möglichkeiten diese auszulegen. Für die Nazis waren diese Themen und diese Beschreibungen offensichtlich zu heikel. Vielleicht auch oder gerade wegen des literarischen Grundsatzes, dem sowohl Jack London, als auch sein Protagonist Martin Eden beim Schreiben folgen: "Es ist das Leben. [...] Es ist real. Es ist wahr. Und ich muss das Leben beschreiben, wie ich es sehe."

Wer diesen Herbst also die Zeit und Muße hat, sich an ein wunderbares Werk des frühen 20. Jahrhunderts vorzunehmen, dem sei „Martin Eden“ empfohlen. Und zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennung, am 10. Mai 2012, können wir dann gemeinsam feiern, dass wir es heute wieder lesen können.

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